Die Menschheit krankt!
Kurze Wahrheitsgeschichte von Ulrich Tamm erlebt
Ein Samstag im Juli.
In Hamburg das schönste Wetter, so um die 28 Grad und wenn es auch keiner glaubt, tatsächlich kein Regen hier.
Wir, meine Frau und ich, sind zu einer glänzenden Party eingeladen, Gäste aus der halben Republik werden erwartet, neben den obligatorischen Verwandten, kommen auch Freunde und Bekannte von Kreuzfahrten, Sportler und Autoren um die Null zu feiern.
Eine Lokalität, inmitten eines idyllisch gelegenen Naturschutzgebietes, bietet ausreichen Platz für Tanz, Smalltalk und andere Vergnügungen.
Ein national bekannter DJ wurde für die gute Unterhaltung engagiert und man konnte ihm sein Können nicht absprechen. Einfühlsam nahm er jede wechselnde Stimmung auf und brachte mit den gelungenen Gigs die Tanzfläche zum Kochen.
Ebenfalls die Speisen, zusammengestellt von einem bekannten Hamburger Caterer, ließen für Leib und Seele keine Wünsche offen.
Wie immer bei solchen Veranstaltungen, ist das Eintreffen der Gäste eher ein Glücksspiel, denn eine planbare Angelegenheit. Die Ersten eine Stunde zu früh und die Letzten kurz vor Mitternacht. Bei großen Events fällt das zum Glück nicht weiter in's Gewicht und so konnte denn auch lange dem Partyspaß Nr. 1 gefrönt werden. Das Hetzen über die gerade eintreffenden Gäste, ihre unmögliche Abendgarderobe und die neuen Begleitungen, füllte den halben Abend mit herrlichem Klatsch aus.
Unsere Wege (von meiner Frau und mir) kreuzten sich von Zeit zu Zeit auch mal wieder. Diese Chance nutze ich immer sofort aus, um mit der schönsten Frau des Abends zu Tanzen. Zum Glück erstreckte sich die Tanzfläche über zwei Säle und lag teilweise im Bereich einer Terrasse, dessen gesamte Fensterfläche geöffnet gewesen ist. Hier wurden die Temperaturen ab 23 Uhr richtig erträglich und das Tanzen wurde zum Vergnügen.
Sonst führte mich mein Weg zwischen den Gästen hindurch, immer auf der Suche nach netten Gesprächspartnern. An einem Tisch blieb ich längere Zeit und unterhielt mich mit Birgit, dessen Tochter zur Zeit in Australien verweilte. Ich als ausgesprochener Nichtaustralienfan musste jedoch zugeben, dass es auch da sehr schöne Fleckchen gab, aber erst nachdem ich ca. 100 Foto's gesehen hatte und schon da wurde ich auch mit einigen sogenannten Selfies konfrontiert.
Es mag ja ganz drollig sein, sich und seine Mitopfer zu verunstalten, aber wenn es eine andere Möglichkeit gibt, dann dachte ich mir, dass es doch besser wäre diese zu nutzen. Früher, oh wie sich das komisch anhört, aber es ist ja so, also früher habe ich so etwas auch schon öfter einmal gemacht, auch wie es noch keine Digitalkameras gab. Aber genau wie heute sind die meisten Bilder eher komisch geworden.
Na ja, "Selfies" eben.
Jeden Fotografen würde man erwürgen wenn er solche Arbeit ablieferte.
Ich verliere mich schon wieder in Nebensächlichkeiten. Wo war ich noch stehen geblieben? Ach ja, ich unterhielt mich gerade mit Birgit, als gegenüber von uns zwei Handys Signal gaben. Das uns schräg gegenüber sitzende Paar griff, jeder für sich, zu seinem Gerät und aktivierte jeweils sein Smartphon. Das von der Frau hatte die Größe eines kleinen Tablett PC's.
Oh, ist das riesig sagte ich. Das war schon ein Fehler, denn jetzt musste ich mir anhören, das sie vorher ein i Phon hatte und das das eine viel schlechtere Kamera besaß und und und, mir gefiel der Gesprächsverlauf gar nicht. So etwas interessierte mich gar nicht, aber leider hatte ich meinen Mund ja nicht halten können. Ca. 10 Minuten weiter und ich wußte alles über Ihr Smartphon, ihre Kinder, das ihr Mann Fußball spielte und das seine Mannschaft heute einen Ausflug, natürlich nur die Männer, zur Reeperbahn unternommen hatten. Diese, jetzt bestimmt schon leicht angetüttelte Bagage, hatte jetzt eine Mail, mit mir unbekannten Inhalt, geschrieben und sie wollten jetzt antworten. Natürlich mit Bild. Es wurde noch kurz diskutiert welches Smartphon denn nun genommen werden sollte und sie hat gewonnen, kurz dachte ich mir, dass das Gewinnen bei den Beiden wohl immer oder zumindest häufig bei ihr liegt.
Aber egal.
Und jetzt kam mein Einsatz, freundlich und hilfsbereit wie ich nun einmal bin, fragte ich ob ich sie denn fotografieren sollte und hielt meine Hand dem Smartphon entgegen. Oh, dass hättet ihr sehen sollen, die Blicke fragten, ob ich evtl. einen kleinen Dachschaden hätte oder ob ich irgendwo ausgebrochen sei und ob sie mich vielleicht gleich wieder abholen lassen sollten.
Man die Smartphone müssen aber teuer sein und die geben sie nicht aus der Hand, weil sie Angst haben, dass jemand (ich) sie dann stehlen würde, dachte ich.
Na ja, denken kann man ja vieles.
Nun positionierten sich beide vor dem Gerät, der Arm (ihrer) wurde bis an die Schmerzgrenze ausgestreckt, dann legten sie die Köpfe verkrampft aneinander, stierten auf den Monitor und klick entstand das erste Bild und klick das zweite. Ja das ist toll, flötete sie und drückte mir das Handy in die Hand und fragte, wie findest Du das?
Ich hatte das teure Handy in meiner Hand und keiner hatte mehr Angst davor, das ich es stehlen konnte. Merkwürdig.
Dann sah ich mir das Bild an.
Schreck lass nach, zwei verkrampfte Menschen, einer weiblich, einer männlich, guckten mich sehr blöde an und der komisch verzogene Mund sollte wohl ein Lächeln andeuten. Aber um das aus dem Bild heraus lesen zu können, musste man sich schon mit Hieroglyphen auskennen, so merkwürdig sah es aus.
Aber in ihren Augen leuchtete die Freude über so ein schönes Selfie und schwupp war es auch schon versendet.
Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen, die Beiden hatten mich nicht so entsetzt angesehen, weil ich ihr Handy stehlen wollte, nein, sondern weil ich es doch tatsächlich in Erwägung gezogen hatte, von den beiden ein richtiges Foto machen zu wollen.
So etwas macht man doch heute nicht mehr, nein Selfies sind angesagt, da kannst du dich überall ablichten, sogar wenn Du ganz alleine bist.
Auf dem Klo oder hässlich und unausgeschlafen im Bett, gelangweilt auf der Couch oder noch viel schlimmer, lachend im Nachthemd und dann kannst du das noch ins Netzt stellen. Toll.
Oder bin ich nur alt?
Am nächsten Mittwoch bin ich dann in der Hamburger City Reklame für mein Kinderbuch gelaufen und da habe ich dann weitere verrückte Auswirkungen der Selfies erlebt.
Nachfolgend einige Beispiele.
Auch hier fragte ein ältere Herr eine Gruppe von jungen Mädchen, die sich gerade selber fotografieren wollten, ob er ein Foto von Ihnen machen sollte, da sagte das eine Mädchen, "Opa, das sind Selfies, davon hast du keine Ahnung". Der ältere Herr ging sehr verdutzt weiter und schüttelte nur mit dem Kopf, was aber die Mädchengruppe nur zum Lachen brachte. Hätte ich nicht gerade meine Reklameschilder, für mein Kinderbuch, vor Brust und Bauch, dann hätte ich dieser Göre aber mal meine Meinung gesagt.
So lies ich es doch lieber.
Ganz komischen Auswüchsen konnte ich noch am Jungfernstieg beiwohnen.
Ein junger Mann, aus einer Gruppe asiatischer Touristen, kletterte neben dem Alex auf eine komische Figur (Statue) und schoss Selfies, immer und immer wieder, dabei nutzte er eine Selfiearmverlängerung und fummelte fast seinen Mitreisenden vor der Nase herum, so das einer von denen genau so gute, wenn nicht noch bessere Fotos hätte schießen können.
Wenn man die Augen offen hält, dann sieht man überwiegend Menschen, welche sich alleine, zu zweit oder in Gruppen selbst ablichteten. Mal mit dem Hamburger Rathaus, mit der Alster oder sonst was im Hintergrund.
Hunderte, wenn nicht sogar Tausende hätten hier mit dazu beitragen können, dass über alle Grenzen hinweg, gegenseitige Fotografien oder sogar Bekanntschaften entstanden wären.
Eigentlich Schade!
Das ist schon etwas k...., ich weiß nicht.
Als nächstes muss ich noch kurz von einem Punkerpärchen, was bettelnd am Straßenrand saß, erzählen. Bei jeder meiner Runden kam ich wieder an Ihnen vorbei und jedesmal klönten wir nett miteinander. Bei meiner vierten Runde fragte ich, ob sie mich nicht einmal mit meinem Smartphon fotografieren könnten, erstaunt blickte er mich an und fragte, "willst du nicht lieber ein Selfie machen?"
Nein ich wollte nicht und so bekam ich ein nettes Foto, welches ihr hier bestaunen könnt.
Übrigens nenne ich diese Art von Fotografie "Otheries".
Es ist ein Vergnügen Menschen anzusprechen, diese zu fragen, ob sie ein Foto von einem machen könnten. Man rückt wieder etwas näher mit anderen Menschen zusammen, die Kommunikation wird wieder vermehrt genutzt und Freundschaften können entstehen.
Also "Otheries". Der neu Trend geht zur Fremdfotografie.
Evtl. gibt es dann keine hässlichen Bilder mehr aus WC's, Schlafzimmern oder sonst woher, aber ist das wirklich wichtig und es muss ja nicht nur eins geben.
Ich glaube schon das Selfies mit Otheries gut zusammenleben könnten.
Mit freundlichem Gruß
der Otherieerfinder
#Hamburg #Autor #Tamm #Blog #karldiekroete
Kommentar schreiben